Die zehnjährige Ogino Chihiro ist von dem Umzug in eine Kleinstadt nicht gerade begeistert, doch
selbst in ihren wildesten Träumen (oder Albträumen) hätte sie sich nicht vorstellen
können, was sie wirklich erwartet
Sen to Chihiro no Kamikakushi
©2001 Nimaryoku, TGNDDTM
Idee, Szenario, Aufsicht: Miyazaki Hayao
Leitender Produzent: Tokuma Yasuyoshi
Musik: Hisaishi Joe
Regie: Andou Masashi
Künstlerische Leitung: Takeshige Youji
Animation: Gainax, AIC, Madhouse (u.a.)
Spieldauer: 125 Minuten
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Denn auf der Anfahrt zum neuen Heim verfährt sich ihr Vater und landet auf einem Feldweg, der an
einem seltsamen Tunnel endet. Aus Neugier wird dieser durchquert. Auf der anderen Seite findet sich
eine scheinbar absolut verlassene Ansammlung von Häusern. Doch als es Nacht wird, ist das
Städtchen auf einen Schlag mit Leben erfüllt - wenn das überhaupt der richtige
Ausdruck ist für eine Bevölkerung aus furchterregenden Geister- und Märchengestalten.
Doch es kommt noch schlimmer: Chihiros Eltern haben sich in Schweine verwandelt, der Rückweg
endet plötzlich an einem Seeufer, und sie selbst erregt als einziger Mensch in der Menge recht
unangenehmes Aufsehen. Immerhin findet sie in Haku einen Freund, einem Jungen, der ihr rät, in
dem riesigen, die Stadt dominierenden Gast- und Badehaus als Putzhilfe anzuheuern. Dadurch hat sie
zwar wenigstens eine Bleibe, doch der Hausherrin ist Chihiros Name auf dem Anstellungsvertrag zu
lang, und sie kürzt ihn mittels Magie auf Sen (das erste Kanji in
Chihiro in einer anderen Lesung) - und bald kann sich Sen nur noch verschwommen an ihre
eigene Vergangenheit und ihren richtigen Namen erinnern! Sollte sie ihn ganz vergessen, so
erklärt ihr Haku, wird sie für immer hier bleiben müssen und ihre Eltern landen im
Kochtopf
Soweit also das Szenario in dem langerwarteten neuesten Kinofilm aus dem Hause Ghibli. Im weiteren
Verlauf der Geschichte lebt sich Sen in ihre neue Umgebung ein, gewinnt weitere Freunde und muß
eine Reihe schreckenerregender Fabelwesen konfrontieren, um schließlich
aber wir wollen
ja nicht die ganze Handlung verraten!
Auf jeden Fall ist Sen to Chihiro, wie eigentlich alle Ghibli-Filme, ein ziemlich einzigartiges
Kleinod - und wer hätte auch etwas anderes erwartet? Dabei gibt es sowohl Gemeinsamkeiten als
auch grundlegende Unterschiede zu früheren Ghiblis. Dem Kenner läßt sich der Film
vielleicht am besten beschreiben als eine Mischung aus der Dramatik und der teilweise düsteren
Grundstimmung von Laputa sowie dem sense of wonder und der kindlichen Sicht auf eine Märchenwelt
aus Totoro. Die komplexen Geflechte aus Politik und Ethik wie in Mononoke Hime fehlen hier hingegen
völlig - die Story von Sen to Chihiro ist, wie bei Märchen üblich, relativ einfach
gestrickt. Miyazaki Hayao, der das Studio Ghibli ja zwischenzeitlich verlassen hatte, an diesem Film
aber doch wieder entscheidend mitwirkte, hat ihn ganz ausdrücklich vor allem für Kinder
konzipiert. Doch das heißt natürlich nicht, daß man sich als Erwachsener langweilen
würde.
Denn das hervorragende Merkmal von Sen to Chihiro ist die Erschaffung einer neuen, unbekannten Welt
voller fremdartiger Wesen, deren Regeln, Freuden und Gefahren sich Sen, genauso wie dem Zuschauer,
erst nach und nach erschließen. Dies wird hauptsächlich durch den enormen Detailreichtum
und die Vielfalt in den Charakter- und Locationdesigns erreicht, die teilweise in der japanischen
Sagen- und Märchenwelt verwurzelt, teilweise aber auch völlig neu erdacht und vor allem bis
ins kleinste Detail durchdacht sind. Egal, ob es das gebührenpflichtige Heißwassersystem
des Badehauses oder die altertümliche Fahrkartenentwertungsmaschine des Geisterzuges ist: alles
macht irgendwie Sinn.
Die Charaktere sind allerdings, anders als in den meisten Märchen, keine Stereotypen, und der
erste Eindruck täuscht oftmals: Eigentlich ist kaum einer der Hauptcharaktere ganz das, was er
auf den ersten Blick zu sein scheint. Sen selbst erscheint am Anfang als ziemlich zaghaft und
ängstlich, gewinnt im Laufe der Geschichte jedoch deutlich an Mut und Selbstvertrauen. Rin, die
sie in ihre Arbeit einweisen soll, benimmt sich zunächst schroff und abweisend, wird dann jedoch
zu einer guten Freundin. Und Haku
aber das wäre schon wieder zu viel verraten.
Wer sich übrigens fragt, was der Name des Films bedeutet: Nun, Sen to Chihiro sind
natürlich die beiden Namen des Hauptcharakters, doch Kamikakushi ist eine ziemlich schwer zu
übersetzende Wortschöpfung, bestehend aus einer Kombination von kami, der
generischen Bezeichnung für übersinnliche Wesen, und dem Verb kakusu,
verstecken. Ghibli selbst hat als englische Übersetzung dafür spiriting away
gewählt, was wohl recht treffend ist, doch eine gute deutsche Übersetzung fällt mir
jedenfalls nicht ein.
Kommen wir zur technischen Seite: Sen to Chihiro ist, nachdem der Wasserfarben-Stil von Tonari no
Yamada-kun beim Publikum nicht so gut ankam, wieder komplett im altbekannten Ghibli-Stil gehalten.
Und natürlich bewegt sich auch die Animationsqualität auf gewohnt hohem Niveau. Einige
computeranimierte Szenen fallen etwas (so finde ich) negativ auf, nicht weil sie etwa künstlich
aussehen würden, sondern weil sie sich durch superweiche, detaillierte Zooms einfach zu sehr vom
normal animierten Rest des Films abheben; weniger wäre hier mehr gewesen. Die Synchronsprecher
bieten eine ausgezeichnete Leistung, und die Musik von Hisaishi Joe fügt sich wie immer
wunderbar stimmungsvoll in den Film ein. Das Abspannlied Itsumo nando demo, gesungen von
Kimura Yumi, ist zwar ganz nett anzuhören, man vermißt aber irgendwie die sonst
übliche Integration in den Film, die ja gerade bei Ghibli Tradition hat (man denke an Mimi o
sumaseba / Whisper of the Heart!).
Stattdessen untermalt das Lied lediglich die Credits, die vor einem schwarzen Hintergrund
vorbeiscrollen, während der Zuschauer den Film noch einmal geistig Revue passieren
läßt -oder sich den schmerzenden Hintern massiert: Sen to Chihiro no Kamikakushi gelang
es, den Besucherrekord von Mononoke Hime für die erste Woche zu brechen, und selbst am zweiten
Wochenende war der Andrang noch so groß, daß die Kinos überfüllt waren und so
mancher Zuschauer den Film nur auf dem Boden sitzend sehen konnte (!). Dies liegt jedoch auch an der
etwas seltsamen Vertriebspolitik, wegen der der Film nur in einer relativ kleinen Zahl von Kinos
läuft (in etwa jedem vierten oder fünften). Bei Animefilmen ist das (oder weniger) zwar
auch in Japan die Regel, doch in diesem Fall war der Andrang ja eigentlich vorherzusehen, und der
neue Pokemon-Film wird schließlich auch fast überall gespielt.
Noch eine interessante Notiz am Rande: Im Programmheft zu Sen to Chihiro findet sich auch ein
wirklich interessant aussehender Artikel über das Ghibli-Museum in Mitaka, in dem endlich auch
ein festes Datum für die Eröffnung angegeben wird: der 1. Oktober dieses Jahres.
Michael B.
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